Vor ein paar Wochen las ich die Schlagzeile «Wer jetzt allein ist, wird es lange blieben» in einer deutschen Wochenzeitung. Das klingt eindeutig, folgerichtig und so gar nicht erquickend. Die Schlagzeile wirft unweigerlich die Frage auf, wie wir als Gesellschaft Alleinsein und Einsamkeit während und nach der Bekämpfung von COVID-19 gestalten und leben wollen.
Ich habe in den letzten Tagen Menschen in Deutschland, England und der Schweiz zu dem Thema interviewt, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise vom Coronavirus betroffen sind. Diese Eindrücke, die ich unter anderem für mein Buch zum Thema Einsamkeit gesammelt habe, lassen sich am besten in den folgenden fünf Beobachtungen aufzeigen.
Corona als Katalysator für Einsamkeit
Neue Einsamkeit?
Menschen, die vor dem Virus noch nicht mit Einsamkeit zu kämpfen hatten, sehen sich emotional mit einem neuen Alltag konfrontiert: kein Essen oder Feiern mehr mit Freunden oder im Familienkreis, kein spontaner Kinobesuch oder Wochenendausflug mit der Familie. Den gemeinsamen Kaffee mit der Freundin oder Nachbarin wird es erstmal so nicht mehr geben. Die Spielgruppe, die sich jeden Abend zum Kartenspiel in der Kneipe um die Ecke trifft, wird sich vielleicht bis auf den Sommer vertragen müssen. Die Großmutter, die sich auf ihr Enkelkind freut, sieht sich mit einer Realität konfrontiert, die für viele vor einigen Wochen noch nicht vorstellbar war: Soziale Kontakte werden virtuell aufrechterhalten und gepflegt.
Einige von ihnen können da den sozialen Medien etwas Neues und Positives abgewinnen und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. So verabreden sich Familienmitglieder abends zu einem virtuellen gemeinsamen Essen, Liebespaare zum virtuellen Drink und Freund*innen zum Online-Kaffeeplausch tagsüber. Sich in diesen Tagen Rituale zu schaffen und bewusst Kontakte online zu pflegen, hilft Menschen, sich weniger einsam zu fühlen. Diese Strategie scheint für viele, mit denen ich gesprochen habe, emotional nur machbar in dem Wissen und der Hoffnung, dass der Ausnahmezustand zeitlich begrenzt ist.
Resilienz durch vertrautes Alleinsein
Und dann gibt es die Menschen, die es beruflich oder privat gewohnt sind, viel allein zu sein, wie z. B. die Selbstständigen und die Alleinstehenden.
Die Menschen, die schon vor dem Coronavirus allein gelebt haben, viel Zeit allein verbracht haben und/oder sich mit ihrer eigenen Einsamkeit auseinandergesetzt haben, empfinden den momentanen Ausnahmezustand nicht unbedingt als emotional völlig andere oder einschneidende Situation: Sie haben bewusst oder zwangsläufig gelernt, allein zu sein. Diesen Betroffenen scheint es leichter zu fallen, soziale Kontakte zu meiden bzw. sehr stark zu begrenzen und zu Hause zu bleiben. Diese Menschen haben eine gewisse Routine entwickelt und Alltagsabläufe und Rituale verinnerlicht, die es jetzt erleichtern, konstruktiv mit der Situation umzugehen. Dazu gehören Spaziergänge, regelmäßige Bewegung, Lesen, ausgewähltes Konsumieren von Nachrichten und sozialen Medien.
Für sie ist der jetzige Zustand eher eine logistische als eine emotional-mentale Herausforderung: So verlieren Selbstständige von heute auf morgen Aufträge, Reisen müssen umgeplant oder storniert werden und Freundschaften und Sozialkontakte müssen anders als bisher gepflegt werden. Diese Gruppe von Menschen, die resilient und konstruktiv mit dem Alleinsein umgeht, bedient sich eingeübter Rituale der Achtsamkeit, Selbstsorge und Kontaktpflege. Auf die Gesamtbevölkerung übertragen entspricht diese Gruppe wohl eher einer Minderheit.
Trautes Heim, Glück allein?
Dann gibt es Berufstätige, die meist mit ihren Familien leben, es aber nicht gewohnt sind, im Home-Office zu arbeiten. Und die Familien, die plötzlich auf begrenztem Raum Tag und Nacht miteinander verbringen. Da ist die 25-jährige Studentin, die erst vor Kurzem wieder zu ihren Eltern und jüngeren Geschwistern ziehen musste: Sie hat ihren Stundenjob in einem Café verloren und beschreibt mit eindringlichen Worten, wie sehr sie sich nach selbstbestimmtem Alleinsein sehnt. «Wie lange ich das aushalte, weiß ich nicht…, aber irgendwie muss ich da halt durch».
Den Wunsch, ein wenig selbstbestimmte Zeit für sich allein zu haben und sich nicht ständig um die Bedürfnisse von anderen drehen zu müssen, äußern vor allem Frauen*. Das mag auch daran liegen, dass Frauen* – gerade in der jetzigen Zeit – sehr oft für die Care- und Familienarbeit verantwortlich sind oder sich verantwortlich fühlen. Sich in dem aktuellen Ausnahmezustand bewusst abzugrenzen und Zeit für sich allein zu nehmen, scheint allen Befragten schwer zu fallen und auch irgendwie unangemessen, wie eine Interviewpartnerin mit dem Verweis auf die familiäre Arbeitsbelastung beschrieb. Den Familien, die seit längerem gelernt haben, bewusst auch Alleinzeit in ihren Familienalltag zu integrieren und zu leben, scheint dies auch in der aktuellen Situation leichter zu fallen. Und das scheint ganz unabhängig von der Größe des Wohnraumes zu sein.
Trautes Heim?
Unabhängig von der Größe des Wohnraumes ist auch eine andere soziale Dynamik zu beachten, die in den letzten Tagen aufhorchen lässt und nachdenklich stimmt. Die Häusliche Gewalt nimmt zu: Wenn Menschen und Familien die ganze Zeit zusammen sein müssen – wo es keinen Rückzugsort gibt und wo sich schon vor dem Virus Anspannungen und Stress schnell in physischer Gewalt verwandelt haben. Frauenhäuser melden Alarm in diesen Tagen. Aktuell ist noch nicht absehbar, welche Entwicklung diese physische Gewalt gegen Kinder, Frauen und Männer in Deutschland noch nehmen wird. Sehr viel spricht dafür, dass sie zunimmt, je länger der Zustand anhält.
Glück allein?
Und dann gibt es Bevölkerungskreise und Regionen, über die diese Tage vergleichsweise wenig berichtet wird, die aber unter der Corona-Krise am meisten leiden. Sie sind am stärksten betroffen, weil sie in physischer Distanz und Alleinsein nur begrenzt leben können und Gewalt und Gefahren aufgrund ihrer Lebenssituation ausgesetzt sind: Da sind die Familien, Sexarbeiter*innen, Stunden- und Tagelöhner*innen und Straßenkinder, die in den menschenunwürdigen Armutsvierteln von Bangladesch oder Indien leben, die dem Virus schutzlos ausgesetzt sind. Da sind die Geflüchteten auf dem griechischen Festland oder auf der Insel Lesbos, die auf engstem Raum, unter unhygienischen und menschenunwürdigen Bedingungen ausharren und vor sich hinvegetieren müssen. Da sind die Syrer*innen und Palästinenser*innen, die seit Jahren in einem Belagerungszustand leben – fernab des internationalen medialen Hypes und der Hysterie rund um Corona. Eine Syrerin betont eine bittere Wahrheit und eine leise Hoffnung: «Corona macht uns alle gleich – egal ob reich oder arm. Und jetzt geht es euch so wie uns, und wir Syrer sind nicht mehr allein im Ausnahmezustand.»
Bei anderen Syrer*innen ist die Hoffnung gestorben, und es geht primär um das Warten auf den Tod:
Wenn das Leben zwangsläufig auf das alltägliche physische Überleben reduziert ist, scheinen Fragen nach selbstbestimmtem Alleinsein und der Umgang mit schmerzhafter Einsamkeit eine Sequenz aus einem ganz anderen Film, wo Inhalt und Protagonist*innen aus einer längst vergangenen Zeit stammen.
Oder wie es die Syrerin betont, «für uns ist selbstbestimmtes Alleinsein ein Luxusproblem oder zumindest ein Privileg». Für viele Syrer*innen ist es dann auch eher ungewöhnlich, allein zu sein oder zu leben. Der enge Familienzusammenhalt wird gerade in psychisch schwierigen Zeiten als normal und selbstverständlich erachtet. Das Zusammensein mit der Familie und anderen ist der emotionale Kitt für den Einzelnen und die Gemeinschaft: «Ohne die Familie hätte ich den Krieg nicht überlebt». Einsamkeit entsteht primär dann, wenn Familienangehörige sterben und die Leere, die Trauer und das physische Alleinsein nicht durch andere Familienangehörige gefüllt oder abgemildert werden können.
Einsamkeit in Zeiten von Corona: Glück allein?
Wir alle gehen mit Alleinsein und Einsamkeit sehr unterschiedlich um. Soziale Extremsituationen, wie die soziale und politisch verordnete Isolation aufgrund des Coronavirus, bestärken gewisse soziale Zustände in unserer Gesellschaft, spitzten sie zum Teil dramatisch zu und stellen uns die Frage, ob und wie wir Solidarität und Gemeinschaft in unserem Umfeld und unserer Gesellschaft leben wollen. Ob in Zeiten von auferlegter sozialer Isolation jede*r Einzelne von uns Alleinsein als Privileg ansehen und einen liebevollen und konstruktiven Umgang mit der eigenen Einsamkeit entwickeln kann, liegt an jedem*jeder einzelnen von uns. Sicher bietet sich die Chance für einen Perspektivenwechsel – was wir damit machen, liegt an uns.
Dieser Text ist – leicht verändert – in „F wie Kraft“ online Journal vom 4. Mai 2020 erschienen.